Abschlussbericht im „Fall Kevin“ vorgelegt: „Überzogener Sparkurs“ war Teil des Problems
Artikelstatus: Fertig 16:38, 22. Apr. 2007 (CEST) Bitte keine weiteren inhaltlichen Veränderungen vornehmen, sondern einen Folgeartikel schreiben. |
Bremen (Deutschland), 22.04.2007 – „Kevin könnte noch leben.“ Zu diesem Schluss kommt die parlamentarische Untersuchungskommission der Stadt Bremen, die die Hintergründe des Falles „Kevin“ untersucht hatte, sinngemäß. Im Fall des zweijährigen Kevin aus Bremen, der am 10. Oktober 2006 tot im Kühlschrank der elterlichen Wohnung gefunden worden war, legte die Untersuchungskommission am Freitag auf einer Pressekonferenz ihren Abschlussbericht vor.
Der Fall hatte für bundesweites Aufsehen gesorgt. Ein zweijähriger Junge war sozusagen unter den Augen des Jugendamtes, das für das Kind die Vormundschaft hatte, zu Tode gequält worden. Ein früheres Eingreifen der verantwortlichen Sachbearbeiter hätte den Tod Kevins wahrscheinlich verhindern können. Wie konnte es dazu kommen, fragten sich viele – darunter die Ausschussmitglieder der Bremer Bürgerschaft, die sich „von Amts wegen“ dieser Aufgabe gestellt hatten. Nach der Durchsicht riesiger Aktenberge (der Bremer Weser-Kurier nennt 267 Akten) sowie der Anhörung von 75 Zeugen sieht der Ausschuss ein Geflecht vielschichtiger Ursachen, die im Wesentlichen in drei entscheidenden Faktoren zusammengefasst werden können: Da war erstens der „überzogene Sparkurs“, den das überschuldete Bundesland Bremen zu verantworten hat und der die Arbeit der Jugendbehörde bestimmte. Zweitens wurden „strukturelle Fehler“ in der Arbeit des Jugendamtes konstatiert, die die Arbeitsabläufe im Amt und die Verteilung von Verantwortlichkeiten betrifft. Der dritte Faktor ist nach Ansicht des Ausschusses im individuellen Versagen einzelner Mitarbeiter der Jugendbehörde zu suchen. Der übergeordnete Faktor war jedoch der vom Bremer Senat auferlegte Sparzwang, der auch die Arbeit im Jugendamt entscheidend prägte. Darauf konnten sich die Ausschussmitglieder, die ja unterschiedlichen parteipolitischen Fraktionen der Bremer Bürgerschaft angehören, einigen. Die oppositionellen Grünen verzichteten auf ein Minderheitenvotum und bescheinigten den Parteien der Regierungskoalition im Untersuchungsausschuss, die in Bremen aus CDU und SPD besteht, ein „großes Aufklärungsinteresse“. Der Ausschuss verurteilte die Sparpolitik als entscheidende Ursache, die zum Versagen der Behörden im Fall Kevin geführt hatte. Die finanziellen Einschränkungen bestimmten, was in der täglichen Arbeit dieser Behörde möglich war und was nicht. Auf den Fall Kevin selbst bezogen, wurde dabei durchaus einiges investiert. Sozialarbeiter, Ärzte und Pädagogen waren mit dem Fall betraut. Über 15 Jahre lang war die Behörde in irgendeiner Form mit der Familie des toten Kevin befasst gewesen. Trotzdem stand am Ende das Versagen aller behördlichen Anstrengungen. Der Ausschussvorsitzende Pflüger fasste es so zusammen: „Am Ende waren die Mutter tot, das Kind tot und der Ziehvater in der Forensik.“
Für Kevin und seine Familie waren eine Reihe ambulanter Maßnahmen finanziert worden. Die Sachbearbeiter waren jedoch angesichts der knappen finanziellen Ressourcen überlastet. Während die Finanzkontrolle im Amt immer perfekter wurde, wurde die fachliche Aufsicht vernachlässigt. Pflugradts Stellvertreter Klaus Möhle kommentierte die Situation innerhalb der Behörde mit den Worten: „Wir haben in Abgründe geschaut.“ Er zog daraus auch eine Schlussfolgerung, die vom Ausschuss offensichtlich geteilt wird: Die Sozialpolitik in Bremen müsse grundlegend neu konzipiert werden. Der SPD-Obmann im Ausschuss, Hermann Kleen, ergänzte: „Vielleicht müssen wir eine solche Politik gar nicht neu erfinden, sondern nur auf frühere Jahre zurückschauen.“
Anfang Januar war der Obduktionsbefund der im Bremer Stadtteil Gröpelingen gefundenen Kinderleiche vorgelegt worden, für den die Rechtsmedizin des Klinikums Bremen-Mitte und das Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf verantwortlich zeichnen. Der Todeszeitpunkt Kevins konnte dabei auf „Ende April und Anfang Mai 2006“ festgelegt werden. Der Junge habe unmittelbar vor seinem Tod fünf Knochenbrüche erlitten, die zu einer Embolie geführt hatten, die letztlich ursächlich für den Tod des Kindes war. Darüber hinaus wurden 20 weitere Knochenbrüche an Armen, Beinen und am Schädel festgestellt, davon mehrere an der gleichen Stelle. Außerdem war Kevin unterernährt. Die Gutachter gehen mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ davon aus, dass Kevin misshandelt worden war.
Bremens neue Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter, die die Leitung des Jugendamtes von der zurückgetretenen Senatorin Karin Röpke übernommen hatte, sieht die Zukunft ihrer Behörde so: Notwendig sei es, dass die Sozialarbeiter nicht vom Schreibtisch ihrer Behörde Entscheidungen träfen, sondern direkt zu den Kindern hingehen müssten.
Themenverwandte Artikel
- Der zweijährige Kevin aus Bremen wurde heute bestattet (13.11.2006)
- Neue Hinweise auf Todesursache im Bremer Fall „Kevin“ (10.11.2006)
- Bremer SPD nominiert Ingelore Rosenkötter als neue Sozialsenatorin (16.10.2006)
- Erste Konsequenzen nach dem Todesfall „Kevin“ in Bremen (13.10.2006)
- Bremer Sozialsenatorin Röpke zurückgetreten (11.10.2006)
- Portal:Bremen
Quellen
- radiobremen.de: „Der Fall Kevin und die Folgen“ (20.04.2007)
- weser-kurier.de: „Kevin könnte noch leben“ (21.04.2007) Quelle nicht mehr online verfügbar
- radiobremen.de: „Obduktionsbericht im Fall Kevin“ (09.01.2007)