Rassistischer Angriff auf Jugendliche in Berlin – eine Falschdarstellung geht medial

Veröffentlicht: 23:52, 20. Feb. 2022 (CET)
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Berlin (Deutschland), 20.02.2022 – Am Samstagabend, den 5. Februar, ereignete sich in Berlin im Stadtteil Prenzlauer Berg ein mutmaßlich rassistisch motivierter Angriff auf eine 17-jährige migrantische Frau. Der Fall sorgte für ein reges öffentliches Interesse und ein außerordentliches Medienecho, nicht zuletzt wegen einer ursprünglich falschen Darstellung der Ereignisse im offiziellen Polizeibericht und in zahlreichen Medien sowie aufgrund eines emotionalen Videos des Opfers.

Die Auseinandersetzung begann nach Angaben des Opfers, einer Deutschen mit kurdischen Wurzeln, bereits in der Tram. Dort sei sie rassistisch beleidigt worden, woraufhin sie die Personen zur Rede gestellt habe. Im Laufe der Auseinandersetzung, die sich nach dem Aussteigen der Beteiligten auf dem Bahnsteig der Haltestelle in der Greifswalder Straße fortsetzte, sei sie auch bedrängt und umzingelt worden. Nachdem sie an der Haltestelle ihre Maske zum Sprechen heruntergezogen hatte, sei sie von einer unbekannten Frau unter schwerer Beleidigung aufgefordert worden, ihre Maske aufzusetzen, obwohl niemand der Umstehenden eine Maske aufhatte. Diese Frau sei dann auf sie losgegangen und habe versucht, ihr gewaltsam die Maske aufzusetzen, wobei diese zerrissen ist und herunterfiel. Unter weiteren rassistischen Beleidigungen kam es dann zu körperlichen Attacken. Die 17-Jährige wurde in der Folge im Krankenhaus stationär behandelt. Niemand der umstehenden Personen habe eingegriffen, obwohl die Schülerin mehrfach um Hilfe geschrien und gebettelt habe. Es soll sich um insgesamt sechs Täter handeln.

Die Polizei Berlin berichtete zuerst, die Frau habe keine Maske getragen und sei deswegen angegriffen worden. Im Polizeibericht vom Sonntagabend wurden auch rassistische Beleidigungen erwähnt. Die Presseagentur dpa übernahm den Polizeibericht, ohne auf die rassistische Komponente der Tat einzugehen; der Evangelische Pressedienst erwähnte die rassistischen Beleidigungen, stellte sie aber als Folge des Streits „um eine fehlende Mund-Nase-Bedeckung“ des Opfers dar. Diese Agenturmeldungen übernahmen wiederum zahlreiche Medien unkritisch. Auch auf Seiten der Querdenken-Bewegung sowie rechter Journalisten wurde die Meldung geteilt.

Am 8. Februar veröffentlichte das Opfer ein Video mit mehreren Millionen Aufrufen auf der Social-Media-Plattform Instagram, in dem sie teilweise unter Tränen ihre Sichtweise des Vorfalls schilderte und Videoaufnahmen von Teilen der Tat zeigte. Das Video verbreitete sich später viral in sozialen Medien, dabei wurde es von Instagram kurzzeitig gelöscht, tauchte später aber wieder auf. Infolge dieses Videos und nach Auswertung von Videoaufnahmen von Überwachungskameras korrigierte die Polizei schließlich ihren Bericht am 9. Februar mit einer Ergänzung. Dieser bestätigt nun, dass die 17-Jährige doch eine Maske trug, die Tatverdächtigen jedoch überwiegend nicht. Außerdem wurde nun deutlicher herausgestellt, dass die Frau rassistisch angegangen worden sei. Der ursprüngliche Bericht basiere laut Polizei auf „den vor Ort aufgenommenen Strafanzeigen, die, wie die weiteren Ermittlungen gezeigt haben, missverständlich formuliert waren“.

Noch am Tatabend waren von der Polizei drei alkoholisierte, männliche Tatverdächtige in einer nahegelegenen Kneipe vorläufig festgenommen worden. Einer dieser sei bereits polizeibekannt gewesen; außerdem wurden bei einer Person Betäubungsmittel gefunden. Identifiziert werden konnten die Männer durch das Handyvideo des Opfers. Nach drei Frauen, die ebenfalls an der Tat beteiligt gewesen sein sollen, werde laut Polizei mit Stand vom 10. Februar noch gefahndet. Außerdem teilte sie am Vortag mit, dass der Polizeiliche Staatsschutz beim Landeskriminalamt Berlin wegen „rassistischer Beleidigung und Körperverletzung“ ermittle.

Der Fall erzeugte eine hohe Medienaufmerksamkeit und führte zu vielfältigen Reaktionen und Solidaritätsbekundungen in der Öffentlichkeit. Zur Tat selbst äußerte sich unter anderem die Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey (SPD). Sie schrieb dem Opfer persönlich einen Brief, in dem sie ihre Solidarität und ihre Erschütterung ausdrückte, und bot der 17-Jährigen ein Gespräch an. Auch die Bundesvorsitzende der SPD, Saskia Esken, verurteilte die Tat via Twitter. Die Journalistin und Filmemacherin Düzen Tekkal äußerte ebenfalls auf Twitter: „Es war #Rassismus: In Berlin wurde eine 17-jährige von einer Personengruppe rassistisch beleidigt, festgehalten und verprügelt. Niemand schritt ein, obwohl sie um Hilfe rief.“ Am 20. Februar fand auf Initiative der Seebrücke Berlin eine Solidaritätsdemo in der Nähe des Tatorts mit mehreren hundert Teilnehmern statt.

Auch die Medien ernteten Kritik. Das Onlinemagazin Telepolis kritisierte, dass in den ersten Medienberichten die einzige Quelle (der Polizeibericht) nicht prominent genug im Artikel genannt wurde, was die Einordnung der Angaben deutlich erschwert habe. Die SPD-Politikerin Sawsan Chebli schrieb auf Twitter: „Das ist Rassismus. Medien schreiben dagegen, dass sie wegen fehlender Maske zusammengeschlagen wird. War das der Spin/Titel der Agenturmeldung? Wieso wird diese so unreflektiert übernommen? Wo bleibt die eigene Recherche?“ Der Journalist Olaf Sundermeyer hielt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die ungeprüfte Übernahme der Informationen aus der Pressemittelung der Polizei für „grob fahrlässig“. Das Onlinemagazin Übermedien wies jedoch darauf hin, dass Medien angesichts der Fülle an Meldungen niemals jede einzelne ausführlich prüfen können. Hinzu käme, dass die Polizei in vielen Fällen aus Datenschutzgründen keine genauen Angaben zu den beteiligten Personen an die Presse weitergeben könne und diese daher kurze Zeit nach einer Tat auch nur eingeschränkt selbst recherchieren könne.

Debattiert wurde auch über Rassismus in Deutschland allgemein. So kommentierte z. B. der Deutschlandfunk: „[D]ie dringend nötige Debatte, wie solche Dinge passieren können, was sie aussagen und wie wir sie in Zukunft verhindern – sie findet in der so genannten Mehrheitsgesellschaft auch elf Jahre nach dem Auffliegen des NSU-Komplexes nicht statt.“ Die Bundestagsabgeordnete der Grünen Schahina Gambir twitterte: „Was Dilan erleben musste macht mich fassungslos und wütend. Und doch sind rassistische Angriffe für BIPoC [Black, Indigenous, and People of Color, Anm. d. Red.] Alltag. Das muss sich dringend ändern.“

Kritisiert wurde auch das Verhalten der Berliner Polizei. Manche debattierten in Folge dessen über rassistische Strukturen in den deutschen Polizeibehörden.

Der dpa-Chefredakteur Sven Gösmann gestand am 14. Februar in einem internen Newsletter ein, die Agentur habe einen „schweren Fehler gemacht, der zu Recht öffentlich scharf kritisiert wurde“. Er stellte klar, weshalb die rassistischen Beleidigungen in der dpa-Meldung weggelassen wurden: „Kritisch hinterfragt haben wir an der Pressemitteilung vor allem den Hinweis auf rassistische Beleidigungen. Und weil wir von der Polizei keine genaueren Informationen dazu erhalten haben, haben wir diesen Part aus der Berichterstattung sicherheitshalber ausgespart.“ Dieses Vorgehen hinterfragte er nun aber: „Aber zu wessen Sicherheit eigentlich? Und warum sind wir nicht mit der gleichen Strenge an alle anderen unklaren Details der Polizeimeldung herangegangen, die ebenso viele Fragen aufwarfen? Sechs Menschen schlagen ernsthaft im ÖPNV eine junge Frau zusammen, weil sie keine Maske trägt?“


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