Non liquet – Kachelmann freigesprochen
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Mannheim (Deutschland), 04.06.2011 – Mit der Urteilsverkündung steuerte der aufsehenerregendste deutsche Strafprozess der letzten Jahre auf seinen Höhepunkt zu und fand ein zumindest vorläufiges Ende: Jörg Kachelmann wurde vom Vorwurf der besonders schweren Vergewaltigung freigesprochen – nicht aus Mangel an Verdachtsmomenten, sondern aus Mangel an Beweisen.
Was am 31. Mai 2011 morgens um 9 Uhr im großen Saal des Landgerichts Mannheim vom Vorsitzenden Richter Seidling verkündet wurde, führte für einen kurzen Moment zu jähen Jubelschreien und Klatschen. Die „Kachelmann-Groupies“ (lt. Ulrich Haagen, ZDF) standen seit 4 Uhr 30 morgens vor den Absperrgittern am Seiteneingang. Wer erst um sieben Uhr kam und sich nicht unauffällig vormogelte, kam nicht mehr in den Saal. Aber auch normale, wenig fanatische Zuschauer, pensionierte ARD-Journalisten ohne Einlasskarte und ein Wikinews-Reporter standen in der Schlange.
43 oder 44 Tage hat die Hauptverhandlung gegen den prominenten Wettermoderator gedauert; die Berichterstatter sind sich da nicht einig. Irgendwann kam man beim Zählen durcheinander. Sicher ist: Auch am letzten Tag waren es noch zum großen Teil dieselben Besucher, die auch an normalen Prozesstagen kamen.
Vor Beginn war wieder die bildnehmende Presse im Gerichtssaal zugelassen worden und bediente sich gierig. Neben Klage-, Verteidigungs- und Richtertisch wurden auch das Publikum und die Pressevertreter selbst aufgenommen, besonders Alice Schwarzer zog die Kameras magisch an.
Im Saal sah man auf der Seite der Anklage diesmal unbekannte Gesichter. Die Nebenklägerin war auch heute wieder gekommen und mit ihr offenbar ihre Familie. Dieses Mal saß sie sogar nur 45 Grad weggedreht, zuvor schaffte sie soviel Hinwendung zur Gegenseite noch nicht.
Nach dem Einzug der Kammer folgte der Auszug der Kameras und direkt danach der Urteilsspruch. Der sehr defensiven Ermahnung an die Jubelfraktion schloss sich die Festsetzung einiger Kostenerstattungen und Entschädigungen an, bevor eine knappe Stunde lang die Urteilsbegründung verlesen wurde.
Jörg Kachelmann, dem der Freispruch galt, wirkte von Beginn an steif und angespannt. Nicht die Spur eines Lächelns war zu erkennen. Auch nicht nach dem Richterspruch. Nur mit Mühe konnte man anschließend erkennen, wie ganz allmählich seine Anspannung etwas nachzulassen schien.
Zwar war das Urteil sein entscheidenster Sieg, doch was folgte, ließ nur begrenzten Raum für größere Glücksgefühle.
Der heutige Freispruch beruht nicht darauf, dass die Kammer von der Unschuld von Herrn Kachelmann und damit im Gegenzug von einer Falschbeschuldigung der Nebenklägerin überzeugt ist. Es bestehen aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme begründete Zweifel an der Schuld von Herrn Kachelmann. Er war deshalb nach dem Grundsatz ‚in dubio pro reo‘ freizusprechen. | ||
– Aus der Urteilsbegründung |
Unmissverständlich sagt das Gericht in der folgenden Urteilsbegründung, dass es „nicht von der Unschuld Kachelmanns überzeugt“ sei. Und damit logisch verknüpft auch nicht von „einer Falschbeschuldigung der Nebenklägerin“. Im „Kerngeschehen“ wird damit noch einmal die Situation der zwei Kontrahenten deutlich. Lüge und Unschuld bedingen sich hier offensichtlich wechselseitig.
Was das Gericht schildert, lässt sich als Patt-Situation auffassen.
Non liquet – es ist unentschieden. Kachelmann war „in dubio pro reo“ freizusprechen.
Letztlich bestehen „begründete Zweifel“ an der Schuld Kachelmanns, das heißt am Tatvorwurf der Vergewaltigung.
Das ist weniger, als sich Kachelmann erhoffen konnte. Es ist keine echte Befreiung vom Tatverdacht, keine Reinwaschung. Nur das Urteil erfordert die eindeutige Festlegung in der Schuldfrage. Und die Urteilsbegründung ist eine Botschaft, die in der Welt bleiben wird, ob man dies gut finden mag oder nicht. Die fehlende Rehabilitation Kachelmanns mögen seine Sympathisanten verdammen – das Gericht kann nicht gezwungen werden, seine (mangelnde) Überzeugung zu verheimlichen. Noch mehr: Es müsste dann nahezu zwangsläufig die Anzeigenerstatterin mit dem Vorwurf der Falschbeschuldigung belasten. Von dieser Annahme scheint das Gericht noch weiter entfernt zu sein als von der Annahme der Schuld Kachelmanns.
Es gibt hier also keinen Ausweg ohne Opfer. Überzeugte Kachelmann-Anhänger hätten wohl kein Problem mit einer klaren Schuldzuweisung, jedoch war erstaunlicherweise aus dieser Richtung zuletzt oft zu hören, man wolle den Freispruch – egal, welcher Klasse. Eine überraschende Bescheidenheit angesichts des Verfolgungseifers, der sich gegen das mutmaßliche Opfer speziell im Internet manifestierte.
Mit den erheblichen verbleibenden Zweifeln dürfte nun auch ein möglicher juristischer Gegenschlag für Kachelmann verbaut sein. Der Ausschlag des Pendels gegen die Nebenklägerin, wie von der Verteidigung ins Spiel gebracht, wird unwahrscheinlich.
Der Kammer zu unterstellen, sie sei nicht bestrebt, die Wahrheit herauszufinden und sie stattdessen mit dem Vorwurf zu überziehen, sie verhandele, bis etwas Belastendes herauskomme, ist schlicht abwegig. Im Ergebnis wird damit meinen Kollegen und mir jegliche Professionalität und jegliches Berufsethos abgesprochen. Es bleibt der ungerechtfertigte, dem Ansehen der Justiz schadende Vorwurf im Raum stehen, Richter seien bei Prominenten bereit, zu deren Lasten Objektivität, richterliche Sorgfalt und Gesetze außer Acht zu lassen. | ||
– Richter Seidling, |
Sehr viel deutet darauf hin, dass Kachelmann nur knapp an seiner Verurteilung vorbeigekommen ist. Hatten die meisten Vor-Ort-Beobachter, darunter wikinews, den Freispruch kommen sehen, so gab es bis zuletzt noch gewichtige Stimmen, die alles offen sahen – bis hin zur Prognose der Saalverhaftung durch erfahrene Strafverteidiger.
Das Gericht nutzte die Urteilsbegründung auch zur Verteidigung in eigener Sache. Es weist den Vorwurf als abwegig zurück, man hätte immer weiter verhandelt, nur um etwas Belastendes zu finden. Dieser Vorwurf gehe gegen Professionalität und Berufsethos der Kammer. Weiterhin bleibe „der ungerechtfertigte, dem Ansehen der Justiz schadende Vorwurf im Raum stehen, Richter seien bei Prominenten bereit, zu deren Lasten Objektivität, richterliche Sorgfalt und Gesetze außer Acht zu lassen“.
Gerade der vorliegende Fall steht in seiner Komplexität exemplarisch dafür, dass mit vertretbaren Erwägungen unterschiedliche Sichtweisen denkbar sind. Den Vertretern der Staatsanwaltschaft deshalb pflicht- bzw. gesetzeswidriges Verhalten zu unterstellen, ist eines Strafprozesses unwürdig. Die – wenn auch hart geführte – Auseinandersetzung in der Sache setzt immer auch den respektvollen Umgang miteinander voraus. | ||
– Richter Seidling, |
Auch die Staatsanwaltschaft nimmt das Gericht uneingeschränkt in Schutz.
Richter Seidling kritisiert dafür scharf Internetforen und Blogs, in denen die Persönlichkeitsrechte mehr oder weniger aller Prozessbeteiligter „mit Füßen getreten“ wurden, ohne eine effektive Möglichkeit sich zur Wehr zu setzen.
Besonders unangenehm musste es für die Kammer gewesen sein, dass auch Sachkundige ohne Aktenkenntnis und aus der Ferne „häufig aber auf der Grundlage unvollständiger und fehlerhafter Medienberichte“ ihre Meinung dezidiert kundtaten.
Im häufigen Ausschluss der Öffentlichkeit erkannte das Gericht ein Erschwernis für die Medienvertreter. Hier stellte es fest, dass genau dies, nämlich die Tatsache, dass man sich kein vollständiges Bild vom Inhalt der Hauptverhandlung machen konnte, zur Zurückhaltung bei der Berichterstattung hätte führen müssen. Von dieser Zurückhaltung konnte man in der Berichterstattung während der neun Monate dauernden Verhandlung wenig bemerken.
Das Gericht machte klar, dass „die weit überwiegende Anzahl der unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommenen Zeuginnen keine Interviews gegeben und damit Anspruch auf Wahrung ihrer Persönlichkeitsrechte hatten“ und dass es kaum im Interesse Kachelmanns hätte sein können, sein Intimleben in allen Einzelheiten öffentlich zu machen.
Nur einer überschaubaren Anzahl von Medienvertretern wurde zugebilligt, sachgerecht und ausgewogen berichtet zu haben.
Zur Beweislage führt das Gericht aus, dass nicht nur die Nebenklägerin, sondern genauso Kachelmann „in einigen Punkten die Unwahrheit gesagt haben“.
Indem sie darauffolgend ausführen, die Weisheit „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und wenn er auch die Wahrheit spricht“ sei kein juristischer Grundsatz und dies mit einem Lehrbuchzitat untermauert, tut sie das unmissverständlich, aber wieder einmal mehr leicht überlesbar für beide Parteien: Nebenklägerin und Kachelmann.
Kachelmann wurden nicht nur ein „distanzierter Aussagestil“ sondern auch „unwahre Aussagen“ attestiert.
Aber auch folgendes wurde festgestellt: Ganz im Gegensatz zu vielfacher Rezeption in Medienberichten waren es nicht seine Exgeliebten, die sich ihm aufgedrängt haben, sondern genau umgekehrt. Dies wurde laut Gericht im Zuge der Beweisaufnahme eindeutig klar ebenso wie bemerkenswerte „manipulative Fähigkeiten“ Kachelmanns. Letztere wurden mehrfach erwähnt.
Rationalität und Liebe gehen nicht zwingend Hand in Hand | ||
– Richter Seidling zum Verhältnis der Ex-Geliebten zu Kachelmann |
Da beide nicht durchgehend glaubwürdig waren, musste man also die objektiven Beweismittel bewerten.
Seidling sagte: „Es ist […] festzuhalten, dass die objektive Beweiskette in die eine wie in die andere Richtung immer wieder abreißt.“
Hierbei erfuhr man, dass der Tampon mit der eindeutigen DNA Kachelmanns für das Gericht ohne Aussagekraft war.
Zum Messer, mit seinen laut Gutachtern unerwartet geringen Spuren an DNA Kachelmanns, wies das Gericht darauf hin dass, wie von der Verteidigung ausgeführt, nach Aussagen eines Gutachters, die Hautepithelien „wie Pech“ kleben würden, nach Aussagen eines Anderen aber schon durch den Transport hätten dezimiert werden können. Ein eklatanter Widerspruch.
Das Gericht kam damit zu dem Ergebnis, „dass auch in der Gesamtschau der Beweisergebnisse keine tragfähige Grundlage für eine Verurteilung von Herrn Kachelmann besteht, dass aber umgekehrt angesichts des Ergebnisses der Beweisaufnahme nicht von einer Falschbeschuldigung durch die Nebenklägerin ausgegangen werden kann“.
Es folgte ein Schlusswort, das so beeindruckend klang, wie man es nicht erwartet hatte. Besonders nicht in einem Verfahren, das die Tendenz hatte, zu einem Krieg unversöhnlicher Überzeugungen zu geraten. Die Aufforderung, vorgetragen durch den spröden, „preußischen“ Justizbeamten Seidling, das jeweils Beste von beiden Parteien anzunehmen, liest sich wie ein Mahnwort und gleichzeitig wie ein finaler Friedensappell.
„Wir sind überzeugt, dass wir die juristisch richtige Entscheidung getroffen haben. Befriedigung verspüren wir dadurch jedoch nicht. Wir entlassen den Angeklagten und die Nebenklägerin mit einem möglicherweise nie mehr aus der Welt zu schaffenden Verdacht, ihn als potentiellen Vergewaltiger, sie als potentielle rachsüchtige Lügnerin. Wir entlassen den Angeklagten und die Nebenklägerin aber auch mit dem Gefühl, ihren jeweiligen Interessen durch unser Urteil nicht ausreichend gerecht geworden zu sein.
Bedenken Sie, wenn Sie künftig über den Fall reden oder berichten, dass Herr Kachelmann möglicherweise die Tat nicht begangen hat und deshalb zu Unrecht als Rechtsbrecher vor Gericht stand. Bedenken Sie aber auch umgekehrt, dass Frau X. möglicherweise Opfer einer schweren Straftat war.Versuchen Sie, sich künftig weniger von Emotionen leiten zu lassen. Unterstellen Sie die jeweils günstigste Variante für Herrn Kachelmann und Frau X. und führen Sie sich dann vor Augen, was beide möglicherweise durchlitten haben.
Nur dann haben Sie den Grundsatz „in dubio pro reo“ verstanden. “
Bedurfte es eines Beweises dafür, wie beeindruckend solche Worte aus dem Munde nüchterner Juristen erschienen, dann war er darin gegeben, dass sogar Gisela Friedrichsen, eine der Speerspitzen der Kachelmann-Verteidigung und schärfste Kritikerin der Mannheimer Justiz, sich in Interviews zumindest direkt nach der Urteilsverkündung von der Ehrlichkeit und Offenheit in der Urteilsbegründung beeindruckt zeigte. Für ihre einsame Mitstreiterin Sabine Rückert war derartiges nicht festzustellen.
Verteidiger Schwenn, der am Anfang des Urteils noch sehr zufrieden lächelte und seine roten Socken unter dem Tisch hervorstreckte, reagierte am Ende kein bisschen versöhnlich. Der Erfolg des Urteilsspruchs schien ihm sowohl durch die für Kachelmann sehr negative Beurteilung vergällt, als auch durch die Schelte, die er direkt bezogen hatte. Die sachliche Andrea Combé wurde hingegen vom Gericht genauso gelobt wie die Staatsanwaltschaft.
Der Fall Kachelmann ist mit dem Tag des Urteils nicht wirksam beendet.
Ob er seinen groben Abschluss gefunden hat, hängt davon ab, ob die Staatsanwaltschaft definitiv Revision einlegt. Sollte sie immer noch beträchtliche Zweifel an der Unschuld Kachelmanns haben, müsste sie dies versuchen. Andernfalls möchte man ihr fast raten, den Appell der Richter zu beherzigen.
Im Zweifel für den Rechtsfrieden.
Quellen
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